Wenn wir uns gehenlassen, geht nichts mehr

Wenn wir uns gehenlassen, geht nichts mehr

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Bei unserem Partner wollen wir uns gehen lassen, authentisch sein. Aber das ist nicht immer der beste Weg, weiß Paartherapeut Oskar Holzberg.

Foto: Radius Images/Corbis

Niemand möchte in seine Wohnung kommen, die Hausschuhe anziehen und einen Pulsmesser anlegen. Aber in Paarbeziehungen könnte das gelegentlich durchaus sinnvoll sein.

Dann würde Harald nicht wie versteinert am Küchentisch hocken und Ginas Vorwürfe wortlos an sich abprallen lassen. Frank würde nicht mitten in einer erregten Debatte mit Anna aufstehen und das Zimmer verlassen. Und so viele andere Paare würden nicht Gefahr laufen, bei Auseinandersetzungen jeden Augenblick handgreiflich zu werden.

Die magische Zahl liegt ungefähr bei 100. Wenn unser Puls höher steigt, werden wir von unseren Emotionen überflutet. Unser präfrontaler Cortex, der Teil des Gehirns, mit dem wir uns bewusst steuern, kann seinen Job nicht mehr richtig machen. Wenn wir feiern, Sex haben oder uns gut verstehen, ist das wundervoll. Wenn wir schwierige Situationen miteinander klären wollen, ist das aber ziemlich katastrophal.

Zu Hause sind wir frei, wir wollen wir selbst sein. Wir ziehen Anzug, Kostüm oder Arbeitskittel aus und schlüpfen in unsere bequemen Lieblingsklamotten. Gefühlsmäßig verhalten wir uns genauso. Unser Partner ist unser emotionales Zuhause. Seine vertraute Gegenwart erlaubt uns, uns gehenzulassen. Das entspricht unserer Liebesvorstellung, authentisch miteinander zu sein. Es bedeutet aber auch, dass unser Verhalten gegenüber unserem Partner ohnehin schon wenig kontrolliert ist.

Die Nähe verführt zu weniger Selbstkontrolle

Foto: Ilona Habben

Deshalb kommt es in Partnerschaften schnell zu Streit. Und wegen der großen emotionalen Bedeutung, die unser Liebster für uns hat, sind wir flugs auf 180. Jede Bemerkung trifft uns. Auf jeden Gesichtsausdruck reagieren wir. Der Mensch, der uns sonst am meisten Halt gibt, tut uns jetzt nur noch weh. Und wird unerreichbar für uns. Dann gibt es kein Halten mehr, weil wir keinen Halt mehr bei ihm finden.

In dieser Situation regeln sich gerade Männer unbewusst herunter. Sie fürchten sich vor den Aggressionen, mit denen sie alles zerstören könnten. Sie mauern sich in ihrer inneren Welt ein und reagieren nicht mehr. Oder sie verschwinden in die Garage, um das Schlimmste zu verhindern. Wir mussten lernen, unsere Aggressionen gegenüber Eltern, Lehrern und anderen zu beherrschen. Aber häufig war das gerade für Jungen nicht einfach, sondern immer mit der Angst verbunden, das nicht zu schaffen - und dann noch mehr Wut auf sich zu ziehen. Gefühllos zu werden ist ihre erlernte Reaktion. Partnerinnen macht das aber erst recht wütend. Und die Folge wird sein, dass Konflikte erst recht vermieden werden, weil beide die Eskalation fürchten.

Paare können lernen, nicht überflutet zu werden. Sie können sich und den anderen ruhig halten. Und den Punkt finden, an dem es besser ist, eine Stunde Pause einzulegen und erst dann weiterzudiskutieren. Da es schwer ist, im Eifer des Konflikts einzulenken, hilft manchmal ein vereinbartes Stichwort. So wie Kinder "mi" sagen, und das Spiel dann unterbrochen ist. Je mehr Vertrauen wir als Paar haben, im Streit nicht gemeinsam auszuflippen, desto zuversichtlicher werden wir auch brisante Themen angehen. Aber wenn es zu hoch hergeht, dann geht schnell nichts mehr.

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