Zu viele Entscheidungen? Egal - machen Sie einfach eine!

Zu viele Entscheidungen? Egal - machen Sie einfach eine!

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Wir sind alle ausgelaugt von den vielen Optionen, die das Leben bietet. Trotzdem sollten wir uns einmischen, sagt die Philosophin Natalie Knapp.

Foto: Ivelin Radkov/thinkstock

BRIGITTE: Die Studentin Julia Engelmann landete mit einem Poetry-Slam-Video über die Lethargie ihrer Generation einen Youtube-Hit. Hat sie recht?

Natalie Knapp: Ja, hat sie. Aber es sind nicht nur die Zwanzigjährigen. Unsere ganze Gesellschaft wirkt ziemlich erschöpft.

Warum ist das so?

Wir sind ausgelaugt von den vielen Entscheidungen, die wir täglich treffen müssen. Vor 200 Jahren musste man sich im ganzen Leben vielleicht nur zwei Mal entscheiden: Wen heirate ich? Was arbeite ich? Die Auswahl war jeweils überschaubar. Heute haben wir schon beim Einkaufen die Wahl zwischen 100 Marmeladensorten. Im Job hangeln wir uns von Jahresvertrag zu Jahresvertrag. Den Partner suchen wir unter Tausenden in internationalen Kennlern-Foren. Das kostet enorme Kraft.

geb. 1970, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften, Religionsphilosophie und Religionsgeschichte. Heute ist Knapp sehr gefragt als philosophische Beraterin; sie arbeitet zudem als Autorin und Kulturredakteurin. 2013 erschien ihr zweites Buch "Kompass neues Denken" (rororo, 9,99 Euro).

Aber es bedeutet auch Freiheit.

Natürlich. Und natürlich will auch keiner das Leben von 1800 zurück. Deshalb müssen wir lernen zu erkennen, für was es sich lohnt, Energie aufzuwenden. Damit schonen wir unsere Kräfte und unsere Motivation für die wirklich wichtigen Lebensfragen.

Welche sind das?

Die, die unsere Werte berühren: Will ich Kinder haben? Welchen Job soll ich wählen? Aber auch: In welcher Welt wollen wir leben? Wie sollen die Menschen miteinander umgehen?

In Ihrem Buch "Kompass neues Denken" fordern Sie die Leser dazu auf, sich mehr ins Weltgeschehen einzumischen. Warum ist gerade das so wichtig?

Auch wenn uns das nicht bewusst ist: Unser persönliches Glück hängt davon ab, ob die Lebensgemeinschaft auf diesem Planeten gelingt. So etwas wie Massentierhaltung oder sklavenartige Arbeitsbedingungen in asiatischen Textilfabriken sind Zeichen für richtig zerstörerische Beziehungen mit anderen Lebewesen. Der Wohlstand, den wir brauchen, ist deshalb ein Wohlstand an gelingenden Beziehungen. Nur wenn wir den Beziehungswohlstand wieder über den materiellen Wohlstand stellen, kann sich das Netz des Lebens erholen und entfalten. Aber es reicht nicht aus, sich bei den Politikern zu beschweren - wir müssen schon wirklich etwas in unserem Leben verändern.

Was wäre das?

Als Verbraucher haben wir beispielsweise eine unglaubliche Macht. Wir können Produkte kaufen, die fair gehandelt wurden, Sachen teilen oder reparieren. Nicht nur, wenn wir demonstrieren, auch wenn wir so etwas tun, mischen wir uns gestaltend ins Weltgeschehen ein. Das Problem ist, dass die meisten Leute denken, sie müssten dann darben und sich wahnsinnig einschränken. Aber sind wir mal ehrlich: Eigentlich darben wir doch jetzt, weil uns das meiste Zeug, das wir kaufen, auf Dauer nicht glücklich macht. Gute Beziehungen aber schon.

Welche Konsequenzen haben Sie selbst aus dieser Erkenntnis gezogen?

Ich versuche, alle Hersteller zu meiden, bei denen ich das Gefühl habe: So, wie die mit ihren Mitarbeitern umgehen, aber auch mit Tieren oder Pflanzen, so möchte ich nicht behandelt werden. Auslöser waren die ersten Berichte über die schlimmen Arbeitsbedingungen bei Schlecker. Ich war damals Studentin und beschloss: Das will ich nicht unterstützen! Also kaufte ich da nicht mehr ein. Nach und nach kamen immer mehr Firmen wegen ihres Verhaltens gegenüber Mitarbeitern oder Tieren in Verruf. Also habe ich auch dort nicht mehr eingekauft. Heute boykottiere ich ganz schön viele Läden.

Klingt aufwändig.

Ist es aber nicht. Natürlich sind die Produkte teurer, gerade als Studentin musste ich deshalb lernen, mir mein Geld strategisch einzuteilen. Und manchmal war es auch nicht einfach, qualitativ gleichwertige Alternativen zu finden. Doch ich musste ja nicht alle Probleme auf einmal lösen. Alles passierte Schritt für Schritt. Selbst wirklich Großes ist dann machbar. Das zeigt uns auch die Heldenforschung. Zum Beispiel Untersuchungen über Menschen, die während des Nazi-Regimes Juden unterstützten.

Was können wir von denen lernen?

Wie wichtig es ist, den ersten Schritt zu tun. Weil der alles andere ins Rollen bringt. Keiner der Helfer wusste am Anfang, wie alles ausgehen würde. Geschweige denn, welche Fähigkeiten sie brauchen würden. Trotzdem haben sie irgendwann beschlossen, tatsächlich zu helfen, nicht nur darüber zu reden oder nachzudenken. Ihre Fähigkeiten, für die wir sie heute so bewundern, haben sie erst nach und nach erworben.

Das macht Mut. Trotzdem könnte mich dieser erste Schritt ja auch ins Unglück stürzen.. .

. . .oder zur besten Entscheidung Ihres Lebens werden! Ob wir uns richtig oder falsch entschieden haben, wissen wir immer erst viel später. Wer garantiert Ihnen denn zum Beispiel, dass Ihnen nicht kurz nach dem Start in Ihrem Traumjob eine neue Chefin vor die Nase gesetzt wird, mit der Sie sich überhaupt nicht verstehen? Die Konsequenzen einer Entscheidung sind stets unberechenbar.

Das ist ja das Schlimme.

Nein: Das ist das Gute!

Wieso?

Das bedeutet doch auch: Sie können keine falschen Entscheidungen treffen! Wichtig ist, dass Sie sich überhaupt entscheiden. Und dann möglichst gut mit den Konsequenzen umgehen. Das heißt: Wir haben in jedem Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit, unsere Sache gut zu machen. Das finde ich sehr entlastend.

Andererseits hat man so natürlich auch ständig das Gefühl: "Das geht noch besser!" Und genau das baut doch enormen Druck auf. . .

Mit ständiger Selbstoptimierung hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil: Wenn Sie die Zeitspanne, die Ihnen für eine Entscheidung zur Verfügung stand, auf Ihre eigene aufrechte Art genutzt haben, dann haben Sie es so gut wie möglich gemacht und können sich entspannen, bis das Leben eine neue Herausforderung bereithält. Wir sollten aber begreifen, dass diese Entscheidung nie das Ende der Entwicklung ist, sondern immer erst ihr Anfang.

Kann es denn manchmal auch besser sein, einfach abzuwarten?

Warten ist immer dann gut, wenn Sie überhaupt keine Informationen haben oder sich mit den zugänglichen Informationen noch nicht wirklich auseinandergesetzt haben. Selbst wenn wir so eine gute Gelegenheit zum Handeln verpassen, ist das nicht schlimm: Erst eine verpasste Gelegenheit vermittelt uns ja ein Gefühl dafür, was für uns eine gute Gelegenheit wäre. Ich nenne das "konstruktives Abwarten".

Sich selbst und seine Bedürfnisse zu kennen wäre also nicht schlecht.

Es ist die Voraussetzung, um überhaupt kluge Entscheidungen treffen zu können! Herauszufinden, was einem wirklich wichtig ist, kostet aber Zeit. Man sollte sich nicht erst damit beschäftigen, wenn eine große Entscheidung ansteht.

Sondern?

So oft sich die Gelegenheit ergibt. Machen Sie es ab und zu doch so wie die Bremer Studentin in dem Poetry-Slam-Stück, das Sie eingangs erwähnten: Stellen Sie sich vor, Sie stünden am Ende Ihres Lebens. Was soll der Festredner an Ihrem 80. Geburtstag über Sie sagen? Machen Sie sich Notizen. Und wiederholen Sie die Übung regelmäßig. Sie werden sehen: Mit der Zeit werden Sie ein immer besseres Gefühl dafür bekommen, was Ihnen im Leben wirklich wichtig ist. Und das hilft dann nicht nur beim Entscheiden.

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