Lebe ich das richtige Leben?

Lebe ich das richtige Leben?

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Unser Leben ist zu kurz, um ihm beim Verstreichen zuzusehen - aber handeln wir auch danach?

Foto: plainpicture/Lubitz + Dorner

Kürzlich habe ich mich selbst getroffen, und ich war überrascht, was von mir übrig geblieben ist. Beziehungsweise von dem Leben, das ich einmal führen wollte. Von dem ich glaubte, dass es zu mir passt. Ich habe ein Foto von mir gefunden, auf dem bin ich 15. Ich stehe neben meinem Pferd, ich habe ungefähr tausend Sommersprossen und sehe aus wie die sauerländische Variante von Pippi Langstrumpf. Dieses Mädchen von damals hat nicht groß darüber nachgedacht, wie das Leben so sein soll, es war irgendwie klar, dass ich Tierärztin werde, vier Kinder habe, in einem alten Haus in einer kleinen Stadt lebe. Woher dieses Bild kam, weiß ich nicht mehr, nur eines weiß ich heute: Nichts von alledem ist eingetroffen - und ich bin nicht unglücklich darüber. Ganz und gar nicht. Aber die Frage war plötzlich da: Wäre ich in so einem Leben glücklich geworden? Vielleicht sogar glücklicher? Wie weiß ich, ob das Leben, das ich jetzt lebe, wirklich meins ist? Der zweitwichtigste Tag im Leben nach unserer Geburt ist der Tag, an dem wir herausfinden, warum wir geboren wurden, sagen die Menschen vom Stamm der Hadza in Tansania.

Lebt man wie wir in einer Kultur, die die persönliche Freiheit des Einzelnen achtet, scheint es erst einmal nicht schwierig, das Leben zu führen, das man führen will. Vielleicht ist es aber auch so, dass man sich in den Möglichkeiten verheddert, wenn man zu viele hat. Und deshalb zu viele Fragen.

Ist mein Leben richtig, wenn ich eine Hütte in den Bergen besitze, Kinder bekomme und mindestens eine Leidenschaft gelebt habe? Ist es auch dann gut, wenn ich am Ende nicht all die Länder gesehen habe, die Flüsse hinuntergepaddelt bin, die ich mir mal vorgenommen hatte? Sich manche Träume niemals erfüllt haben und ich manche Abzweigung nicht genommen habe, obwohl ich kurz angehalten, gezögert habe und dann doch irgendwas dagegen sprach? Ich bin einige Male nicht gesprungen, als ich es hätte tun können, ich bin viel öfter gesprungen, als ich es mir als 15-Jährige hätte vorstellen können. Aber wie oft werde ich überhaupt noch springen können in meinem Leben? Wann soll man sich diese Fragen stellen: schon mit 20? Es kann jederzeit zu spät sein.

Wir errichten Mauern um uns, weil wir Angst haben, ehrlich und offen zu sein

Die Australierin Bronnie Ware hat ein Buch geschrieben, das sich weltweit millionenfach verkaufte, und erzählt, was passieren kann, wenn man zu oft im Leben nicht gesprungen ist: in die Liebe, die Sehnsucht oder auch nur das Faulenzen. Bronnie Ware schrieb auf, was die Menschen, die sie als Pflegerin in den Tod begleitete, am Ende ihres Lebens am meisten bereuen: Ich lebe so, wie andere es von mir erwarten. - Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet. - Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine wahren Gefühle auszudrücken. - Ich wünschte, ich hätte Kontakt zu Freunden gepflegt. Um das Buch mal salopp zusammenzufassen: Das Leben ist zu kurz, um ihm beim Verstreichen zuzusehen, aber leider merken wir das erst, wenn es zu spät ist. Warum aber ist das so? Als Kinder drücken wir unsere Gefühle noch offen aus, denn das ist überlebensnotwendig, damit andere für uns sorgen, solange wir es nicht selbst können. Aber später, wenn wir in Eigenverantwortung leben könnten, halten wir paradoxerweise an unserer Abhängigkeit fest. Ohne es zu merken, wird das, was wir für unseren ganz eigenen Lebensentwurf halten, von anderen gesteuert. Erst von den Eltern, dann den Erziehern, den Lehrern, und später im Leben ist es die Werbung einer Wurstfirma, die Mama, Papa, zwei blonde Kinder und einen blonden Labrador auf einer Terrasse vor dem Einfamilienhaus zeigen. Und wir merken viel zu spät, dass nicht wir selbst, sondern andere diesen Traum für uns gebastelt haben. "Menschen sind darauf bedacht, akzeptiert zu werden", sagt der Psychoanalytiker Arno Gruen, "wir verhalten uns so, wie wir glauben, dass es die anderen erwarten, und irgendwann verlieren wir den Kontakt zu uns selbst."

Deshalb machen wir einen Job, den wir vielleicht nicht mögen, aber wir mögen den Status, den er uns verschafft, vielleicht auch die Struktur des Tages, die uns durchs Leben rettet. Wir errichten Mauern um uns, weil wir Angst haben, ehrlich und offen zu sein, wir wollen Schmerzen vermeiden. Wir schleppen unser Ich quasi bewusstlos durch die Jahrzehnte und sehen ihm beim Verkümmern zu. Auch weil der Wunsch nach Glück und unser Gefühl für Gerechtigkeit einander in die Quere kommen können, sagt der Zürcher Philosoph Michael Hampe: "Man hat ein Versprechen gegeben, zum Beispiel für eine Ehe, ist einen Vertrag eingegangen für einen beruflichen Auftrag. Das Halten des Versprechens oder das Erfüllen des Vertrages können einen unglücklich machen, ihre Einhaltung ist aber gerecht. Da muss man sich entscheiden, ob man glücklich, aber dafür ungerecht sein will oder lieber gerecht, aber unglücklich. Weil das Glück aber allein durch die Vermeidung des Unglücks noch nicht wirklich garantiert ist, entscheiden sich viele in so einer Situation für die Gerechtigkeit: besser in der Ehe bleiben und den Auftrag erfüllen. Man weiß schließlich nicht, ob man tatsächlich in eine bessere Situation kommt."

Und so hängen wir fest in einem Alltag wie in einem dichten Nebel, hinter dem doch etwas anderes liegen muss, und rennen herum mit dieser Sehnsucht, die das Leben, das wir momentan führen, nicht erfüllt. Und trösten uns mit Sätzen wie: "Du hast wirklich schöne Rosenbüsche und eine nette Yoga-Lehrerin", aber hinter dieser Selbstbestätigung steckt natürlich auch die Beschreibung des ganzen mickrigen Rests.

Es erfordert Mut, den sicheren Weg zu verlassen

Manchmal schreckt uns etwas daraus hervor, der Tod eines Freundes, der Verlust der Eltern. Wir fühlen, dass die Zeit, die wir für so unendlich hielten, plötzlich ein Nichts sein kann. Wann bitte findet mein Leben statt: Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, dass es gleich um die nächste Ecke wartet, dieser Startpunkt, an dem es endlich losgeht? Aber das "Es" bleibt etwas Diffuses und wir in einer permanenten Warteschleife. Wir machen zwar Pläne, aber glauben, dass wir erst noch dieses Haus, jenen Job brauchen, mehr Sicherheit, um dann das passende Leben zu beginnen. Wir leben freiwillig im Hochsicherheitstrakt, denn der sichere Weg ist bequem, das ist die Verlockung, alle gehen ihn, von ihm abzuweichen erfordert Mut.

Vor Jahren habe ich mal ein Outdoor-Training in den Everglades in Florida gemacht. Bevor wir mit unseren Kajaks aufbrachen, sollten wir unsere Rucksäcke leeren und bei allen Dingen überlegen, ob wir sie wirklich in den nächsten sieben Tagen brauchen würden. Am Ende hatte ich mehr als 50 Prozent aussortiert und später auch nicht vermisst, und auch wenn das damals kein philosophischer Ansatz sein sollte, war es doch eine gute Übung in: Was brauche ich wirklich in meinem Leben, was schleppe ich unnötig mit mir herum?

Der Grafiker Stefan Sagmeister, 50, fragt sich das regelmäßig. Er besitzt ein Designstudio in New York - und schließt es alle sieben Jahre, auch für seine Mitarbeiter, und macht ein Sabbatical-Jahr. Er fragt sich in dieser Zeit immer wieder, ob er das Leben führt, das er will - und das hat ihn allen Bedenkenträgern zum Trotz ("Andere werden dich in der Zeit verdrängen, deine Karriere ist am Ende") umso erfolgreicher gemacht. Er bringt jedes Mal neue Ideen zurück, mit denen er u. a. schon zwei Grammys gewonnen hat. Das passende Leben ist niemals für immer, das kann man daraus lesen. Sondern muss in Abständen immer wieder neu und ohne Grenzen gedacht werden. Und ja, das ist nicht einfach: Es erfordert nun mal viel Mut, der Mensch zu sein, der man wirklich ist.

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