Ohne Grenzen funktioniert die Liebe nicht

Ohne Grenzen funktioniert die Liebe nicht

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Die Paartherapeuten sind, wie man so sagt, ein schönes Paar: Hans Jellouschek ist 74, ein verschmitzter, sportlicher älterer Herr, seine Frau Bettina Jellouschek-Otto 57, mit ruhigen braunen Augen und charmanten Lachfältchen. Für beide ist es nicht die erste Ehe: Er ist verwitwet, sie hat zwei erwachsene Kinder aus ihrer vorigen Ehe. Sie leben in Ammerbuch, einem kleinen Ort am Waldrand, mit dem Schienenbus eine knappe Viertelstunde von Tübingen entfernt. Ihre gemeinsame Praxis und ihre jeweiligen Beratungszimmer sind in ihrem Wohnhaus, hier arbeiten die beiden als Psychologen, Trainer und vor allem als Paartherapeuten.

Gleich zu Beginn gibt es eine kleine Szene, die von Bedürfnissen und Grenzen handelt. "Wir gehen ins Beratungszimmer meiner Frau", sagt Jellouschek und weist den Weg, seine Frau will nachkommen. Im Zimmer stehen drei Stühle, zwei davon normal, einer ein rückenschonender Bürostuhl. "Es ist egal, wo Sie sitzen, ich würde nur gern den bequemen Stuhl nehmen", sagt Jellouschek, "wir haben im Urlaub leider beide Rückenprobleme bekommen." Dann geht er noch mal kurz raus, um Wasser zu holen. Währenddessen kommt seine Frau in das Beratungszimmer und setzt sich auf den rückenfreundlichen Bürostuhl. Der Besucher kann seinen Mund nicht halten: "Da wollte eigentlich Ihr Mann sitzen." Sie lächelt freundlich, es ist ja ihr Zimmer, ihr Bereich, und sagt: "Wenn er das wirklich will, dann muss er darum kämpfen." Jellouschek kommt zurück, erfasst die Lage, lässt sich nichts anmerken und setzt sich auf den verbleibenden, weniger bequemen Stuhl.

BRIGITTE: Ihr jüngstes Buch heißt "Die Grenzen der Liebe". Das klingt erst mal ziemlich ernüchternd. Liebe soll doch eigentlich grenzenlos sein, Grenzen überwinden...

Jellouschek: Aber es geht um Grenzen FÜR die Liebe. Nicht gegen die Liebe. "Nur was begrenzt ist, lässt sich füllen", sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Grenzen sind im Interesse der Liebe. Damit eine Liebe entstehen und halten kann, braucht es Abgrenzung.

Jellouschek-Otto: In der Verliebtheit erlebt man das natürlich anders, da sind die Grenzen aufgehoben: Es gibt ein gemeinsames Denken und Fühlen, wir sind EIN Geist, EINE Seele. Aber wenn Paare zu uns in die Therapie kommen, haben sie einige Beziehungsjahre hinter sich und haben natürlich schon Enttäuschungen erlebt. Wieso denkt der andere ganz anders als ich? Wieso mischt der andere sich in was ein, was eigentlich meins ist? Liebt der andere mich denn überhaupt, wenn er so darauf beharrt, seinen Freiraum zu haben? Das sind immer Konflikte über Grenzen, auch wenn die Paare das nicht so benennen würden. In der Beratung kann man dann klarmachen, dass zum Beispiel die Sehnsucht nach Freiräumen ein positives Zeichen für die Beziehung ist, weil es zeigt, dass hier trotz Liebe eben auch Eigenliebe ist.

Jellouschek: Du sprichst in diesem Zusammenhang dann von den "Grenzen des Individuums", also von den Grenzen des Einzelnen. Man muss sich klar und stark abgrenzen, damit die Liebe möglich ist. Liebe und Hingabe heißt ja nicht sich verlieren, sondern sich hingeben und dabei "ich" bleiben. Wenn man sich abgrenzt, muss man aber gleichzeitig offen bleiben und bereit sein, sich weiter auszutauschen. Sonst werden die Grenzen zu starr. Das heißt, wir brauchen klare, aber durchlässige Grenzen.

Wie geht das? Haben Sie ein Beispiel aus Ihrer Praxis?

Jellouschek-Otto: Verschwimmende Grenzen sind da, wenn zum Beispiel beide Partner den Eindruck haben: Ich weiß schon immer ganz genau, was du denkst, wenn du wieder so schaust. Dann passt dir irgendwas nicht. Oder wenn du schweigst, bist du sauer. In der Therapie äußert sich das oft darin, dass beide immer nur "wir" sagen und nicht "ich" oder "du", oder dass einer als Sprecher für beide auftritt.

Jellouschek: Da verschwimmen innerhalb des Paares die Grenzen zwischen den beiden Partnern. Aber genauso können auch die Grenzen des Paares nach außen verschwimmen.

Jellouschek-Otto: Ja, ein wichtiger Anlass für unser Buch war die Erkenntnis, dass viele Paarprobleme dadurch entstehen, dass Eltern Probleme haben, sich von ihren Kindern abzugrenzen.

Warum Eltern sich von ihren Kindern abgrenzen sollen, müssen Sie erklären.

Jellouschek-Otto: Oft kommen Paare zu uns in die Therapie, die sagen, ihre Konflikte hätten mit den Kindern zu tun: mit der Erziehung oder damit, wie jeder sich in den Familienalltag einbringt. Aber wenn man dann sagt: Das ist ja hier eine Paartherapie, also lassen wir die Kinder mal weg, was ist denn mit Ihnen als Paar, sind Sie mit Ihrer Beziehung zufrieden? - dann wird deutlich, dass die Paarbeziehung völlig in Vergessenheit geraten ist. Weil das Paar sich nicht genug abgegrenzt hat, es sind sozusagen die Grenzen zwischen der Paar-Ebene und der Familien-Ebene verschwommen.

Jellouschek: Umgekehrt werden die Erziehungsprobleme, wegen derer das Paar scheinbar im Streit ist, überhaupt erst dadurch verursacht, dass das Paar mit sich selbst unzufrieden ist. Oder sich komplett aus den Augen verloren hat. Das entlädt sich dann sozusagen an den Kindern. Weil die gemeinsame Grundlage bei den Eltern weg ist, das Einverständnis: Wie verhalten wir uns eigentlich gemeinsam den Kindern gegenüber?

Jellouschek-Otto: Vordergründig ist diese verschwimmende Grenze zwischen Eltern und Kindern ein Erziehungsthema. Aber aus unserer Sicht hat das vor allem erst mal negative Auswirkungen auf die Partnerschaft.

Die Eltern kommen miteinander nicht klar und stürzen sich deshalb auf die Kinder?

Jellouschek: Ja, zum Teil. Aber man kann das auch umgekehrt sehen: Eltern müssen heute dies, das und jenes für die Frühförderung, Bildung und Erziehung ihrer Kinder tun - und das kostet dann natürlich alles Energie, die wiederum für die Partnerschaft fehlt.

Wir leben aber auch in einer Welt, in der nicht viel Wert auf Grenzen gelegt wird: Arbeit und Privatleben verschwimmen, wir sind erreichbar, mobil, flexibel.

Jellouschek: Das spiegelt sich in der klassischen Situation: Ein Paar sitzt beim Essen, sein Handy klingelt, und dann telefoniert er bei Tisch, während die Frau danebensitzt und beziehungsmäßig gewissermaßen verhungert. Er löst in dem Moment die Paargrenzen nach außen auf, grenzt sich selber nicht ab, aber grenzt sie sozusagen aus.

Jellouschek-Otto: Hinzu kommt, dass im Moment eine Generation aufwächst, die ein sehr gutes Verhältnis zu den eigenen Eltern pflegt: Mütter sind die besten Freundinnen ihrer Töchter, Väter und Söhne haben gemeinsame Hobbys. Da verschwimmen dann natürlich auch die Grenzen, und wenn die Kinder dieser Generation eigene Familien gründen, haben sie es schwer, sich von den Großeltern und Schwiegereltern abzugrenzen. Und dabei geht es ja nicht darum, harte Grenzen einzuziehen und die anderen zu brüskieren, sondern die Kunst ist, eine Grenze zu ziehen, die trotzdem weiter den Austausch ermöglicht. Zu sagen, mir ist am Kontakt mit euch sehr gelegen, aber an diesem Wochenende wollen wir lieber keinen Besuch von euch.

Um Grenzen so klar und gleichzeitig nicht verletzend zu ziehen, muss man seine eigenen Bedürfnisse sehr gut kennen.

Jellouschek: Ja, der erste Schritt ist die Selbsterkenntnis. Was ist eigentlich das, was ich brauche, wonach ich mich sehne? Zugleich kann ich, wenn ich mir meiner eigenen Bedürfnisse sicher bin, auch viel eher die des anderen anerkennen und mich mit ihm darüber austauschen, verhandeln. Das macht die Grenzen dann bei aller Klarheit wieder durchlässig.

Jellouschek-Otto: Es gibt ganz grundsätzliche Bedürfnisse, die eigentlich jeder von sich kennt. Das ist einmal das nach Nähe, Hingabe und Geborgenheit auf der einen Seite - und auf der anderen Seite nach Raum, Selbstbestimmung und Distanz. Der eine tendiert mehr zur Nähe, der andere mehr zur Selbstbestimmung. Oder das Bedürfnis nach Sicherheit, Dauerhaftigkeit, Planung auf der einen und das nach Flexibilität und Veränderung auf der anderen Seite.

Jellouschek: Die Gefahr ist, dass diese unterschiedlichen Bedürfnisse sich bekämpfen, weil jeder sich zu starr abgrenzt, nur noch sein Bedürfnis durchsetzen will, ohne zu erkennen, dass Beständigkeit auch immer Flexibilität braucht und dass echte Nähe nur entstehen kann, wenn jeder sich auch hin und wieder in Freiräume zurückziehen kann. Man muss immer sehen, was die Bedürfnisse des anderen auch Gutes haben können für die Paarbeziehung.

Jellouschek-Otto: Mir fällt ein Paar ein, das immer gekämpft hat, wenn es um den Urlaub ging. Sie wollte gern schon zwei Jahre im Voraus buchen, aber er wollte sich gern ganz spontan entscheiden. Zwei klar voneinander abgegrenzte Bedürfnisse, aber sie haben schließlich einen Weg gefunden, beiden gerecht zu werden, ohne die des anderen zu missachten: Sie haben sich ein Wohnmobil gekauft. Da hatte sie ihre Beständigkeit, nämlich das Schneckenhaus, das sie immer bei sich hatten, und er seine Spontaneität. Es gab gemeinsame Nähe, aber zugleich konnte jeder auch mal für sich einen Ausflug machen. So kann man Gegensätze sozusagen verknüpfen: Entweder wir finden als Paar einen Kompromiss, oder wir machen es mal auf deine und mal auf meine Art.

Müssen Sie sich als Paartherapeuten hin und wieder auch von Ihrem eigenen Wissen abgrenzen, um nicht zu viel Ihre persönliche Beziehung zu analysieren?

Jellouschek: Was ich über Beziehungen weiß, theoretisch und durch die praktische Arbeit mit Paaren, das hat mir für meine eigene immer eher geholfen. Schädlich ist nur das Fachsimpeln: beruflich über die eigene Beziehung zu reden, während man sie führt.

Jellouschek-Otto: Ja, sehe ich auch so.

Sie arbeiten im gleichen Beruf, Sie leben und praktizieren im selben Haus - das klingt nach einer dreifachen Herausforderung, sich abzugrenzen.

Jellouschek-Otto: Wir haben klare Zeitstrukturen und Rituale. Das zweite Frühstück mit Brezeln und Kaffee zum Beispiel, da tauschen wir uns aus, da erleben wir uns miteinander. Und Berufliches steht nicht im Vordergrund.

Jellouschek: Und wir haben ein Ritual, das nennen wir Beziehungstag. Einmal im Monat ein Tag, an dem wir etwas machen, was uns als Paar Lust macht. Sei's Einkaufen oder Wandern. Jedenfalls frei von beruflichen Terminen.

"Es muss auch zwischen Alltag und Sex eine klare Grenze geben"

Sie empfehlen auch klare Strukturen bis hin zu festen Terminen für Sex. Was jeglicher Leidenschaftsfantasie widerspricht...

Jellouschek: Ja, vor allem dem berühmten "In der Küche übereinander herfallen". . . Aber das verläuft sich doch eh in der Alltagsbeziehung. Und dann besteht die Gefahr, dass Intimität gar nicht mehr stattfindet. Es muss eine Grenze geben zwischen Alltag und Sexualität, und dafür muss man einen klaren Rhythmus wählen, zum Beispiel einen festen Termin für Sexualität am Wochenende. Das ruft immer ziemliches Entsetzen hervor, wenn ich das so sage, aber die Erfahrung ist: schön, sich darauf einzulassen, denn wenn man darauf wartet, dass einen die Leidenschaft spontan ergreift, dann kann man meist ewig warten.

Jellouschek-Otto: Wobei, wenn's für beide passt und es sie gerade in der Küche überkommt, klar, wunderbar! Aber bevor gar nichts mehr stattfindet, tut es gut, den Bereich Sexualität deutlich vom Alltagsgeschehen abzugrenzen.

Jellouschek: Das heißt ja nicht, die Sexualität zu begrenzen, sondern sie zu ermöglichen. Und da wird es wieder sehr deutlich: Grenzen FÜR die Liebe.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass wir ein "realistisches Liebesverständnis" brauchen. Das klingt nicht sehr romantisch. Was meinen Sie damit?

Jellouschek-Otto: Für mich ist das die Einsicht, dass Liebe Grenzen braucht, weil zu der Liebe, die ich für den anderen habe, auch die Eigenliebe gehört. Ohne Eigenliebe kann ich den anderen nicht lieben. Und das schafft Unterschiede, die wichtig sind und die, wenn wir sie akzeptieren, die Liebe sehr vertiefen.

Jellouschek: Ich würde sagen, realistische Liebe ist ein Gegenentwurf zu dieser verbreiteten Vorstellung von Liebe als Verschmelzung. Das gibt's nämlich nicht, jedenfalls nicht in diesem Leben. Weil immer die beiden verschiedenen Partner Menschen mit eigenen Bedürfnissen bleiben. Was eine Spannung erzeugt zu der Sehnsucht nach Hingabe. Es ist, wie du sagst: Die Liebe zu sich selbst und die Liebe zum anderen in eine Balance zu bekommen - das ist ein realistisches Liebesverständnis.

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