"Für meine Mutter war ich der Teufel"

"Für meine Mutter war ich der Teufel"

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Jahrelang glaubte Gabriele Nicoleta, man könne sie nicht lieben - denn das hatte ihre narzisstische Mutter immer behauptet. Ein Gespräch über Lügen, Scham und Hoffnung.

Foto: Dubova/shutterstock

BRIGITTE: Frau Nicoleta, in Ihrem Buch "Das Gift der Narzisse" erzählen Sie Ihre persönliche Geschichte - die Geschichte eines Mädchens, das von seiner narzisstischen Mutter nicht geliebt wird. Können Sie sich an den Moment erinnern, in dem Sie sich zum ersten Mal von Ihrer Mutter zurückgewiesen fühlten?

Gabriele Nicoleta: Das war schon sehr früh. Meine Mutter wollte mich nie an die Hand oder gar in den Arm nehmen, hat mich nie gestreichelt. Sie sagte immer, dass sie Körperkontakt nicht mag - und dass meine Hände so heiß wie Höllenfeuer seien. Wenn sie meinem Bruder Tony, der drei Jahre nach mir geboren wurde, etwas vorsang, schickte sie mich weg.

Ganz im Gegensatz zu Ihnen hat sie Ihren Bruder mit Liebe nur so überschüttet. Wie haben Sie sich das als Kind erklärt?

Sie sagte mir immer wieder, Tony sei ein Engel - und ich der Teufel. Mit seinen blonden Löckchen und den Pausbacken sah er ja auch wirklich so aus. Ich hatte dunkle Haare, wie der Teufel eben. Sie hat mir eingebläut, ich sei das Böse. Und ich habe immer die Schuld bei mir gesucht, habe ihr geglaubt, dass man mich nicht lieben kann, weil ich schlecht bin.

Hatten Sie nicht eine riesige Wut auf Ihren Bruder?

Ich habe es ja nicht anders gekannt. Wobei - als Kind habe ich ihn schon beneidet, weil meine Mutter sich so liebevoll um ihn gekümmert hat, das Engelchen. Er hat auch immer mal wieder gelogen und behauptet, ich hätte etwas kaputt gemacht. Meine Wut ist aber immer schnell verpufft - er ist schließlich mein Bruder! Später ist mir klar geworden, dass er eigentlich der Partner meiner Mutter war, nicht das Kind. Er hatte kein eigenes Leben: Mit 37 Jahren saß er noch immer bei meiner Mutter auf der Couch, den Kopf auf ihrem Schoß - und sie hat ihn gekrault. Er hat immer bei ihr gelebt, hat nie eine Entscheidung selbst getroffen, geschweige denn eine Familie gehabt. Im Endeffekt tat er mir Leid.

Was passiert mit einem Kind, wenn seine Mutter ihm jegliche Liebe verweigert? Gabriele Nicoleta wuchs als Tochter einer narzisstischen Mutter auf. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben: "Das Gift der Narzisse: Wenn eine Mutter ihr Kind seelisch vergiftet" ist im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen, hat 384 Seiten und kostet 16,99 Euro.

Aber er hat das Spiel doch mitgespielt.

Als Kind schon. Später ist er mir aus dem Weg gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass ihm das alles peinlich ist. Er kam auch nicht mehr mit zu Familienfeiern, aus Angst, lügen zu müssen. Er mied solche Situationen - und mich. Sogar an Weihnachten kam er nur zum Essen und verschwand schnell wieder.

Haben Sie eine Ahnung, was die Ursache für die narzisstische Persönlichkeitsstörung Ihrer Mutter war?

Ich kann es mir bis heute nicht erklären. Meine Oma, also ihre Mutter, war eine herzensgute Frau. Ich habe sie bewundert, weil sie so gütig war. Sie hat nie etwas Böses über jemanden gesagt. Ich wollte immer so werden wie sie.

Verhielt sich Ihre Mutter in Gegenwart anderer Leute auch so mies?

Wenn jemand dabei war, hat sie meinen Bruder immer über alle Maßen gelobt. Ging es mal um mich, hat sie sofort vom Thema abgelenkt und so getan, als hätte sie die Frage nicht gehört.

Ihre Oma, Ihre Tante - es gab immer wieder Personen, die mitbekamen, wie ungerecht Ihre Mutter Sie behandelt. Warum haben sie nichts unternommen?

Meine Mutter brach immer dann, wenn mich jemand in Schutz genommen hat, den Kontakt ab. Mit meiner Oma hat sie das sogar mehrfach gemacht. Ich durfte sie mitunter drei Monate lang nicht sehen. Deswegen habe ich sie sogar als Kind schon oft angefleht: "Oma, bitte sag nichts!" Ich habe auch selbst nie etwas gesagt, weil ich dann die Theorie meiner Mutter bewiesen hätte - dass ich die Böse bin und dass ich sie vor anderen schlechtrede. Ich wollte ihr immer das Gegenteil beweisen.

Auch Ihr Vater erlebte alles aus nächster Nähe mit - und stand dennoch nur daneben.

Er hat sich nicht eingemischt, war allerdings auch selten da, weil er lange gearbeitet hat. Irgendwann fing er mit dem Trinken an, weil er den ständigen Streit nicht mehr ertrug. Wenn er mich in Schutz nahm, griff meine Mutter ihn an und beleidigte ihn. Am Ende nahm er sich das Leben.

Gabriele Nicoleta wurde 1964 in Regensburg geboren, arbeitete als Verkäuferin, Fabrikarbeiterin sowie in einer Schule und Tagesstätte für körperlich und geistig behinderte Kinder. Aus erster Ehe hat sie drei Kinder. Seit 2010 ist sie zum zweiten Mal verheiratet. Heute lebt sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann in der Nähe von München und arbeitet freiberuflich als Fotografin.

Im Buch erscheint er als passiver, konfliktscheuer Mensch.

Genau solche Männer geraten an narzisstische Frauen. Man nennt sie auch "flying monkeys", weil sie alles mitmachen. Sie nehmen es in Kauf, dass die Kinder Ärger bekommen - aus Angst, dass sie selber Ärger bekommen könnten, wenn sie sich einmischen. Auch der zweite Ehemann meiner Mutter war schwach, er ließ sich sogar erpressen: "Wenn du mich liebst, dann machst du das" - diesen Satz habe ich oft gehört. Gab er doch mal Widerworte, drohte sie ihm damit, ihn rauszuschmeißen. Er musste sogar als Zeuge für ihre Lügen herhalten.

Es ist erstaunlich, wie lange dieses Kartenhaus aus Lügen gehalten hat.

Narzissten können sehr gut lügen - und das Umfeld fällt darauf herein. Meine Mutter hielt mich von meinen Verwandten fern. So konnte sie vor ihnen Lügen erzählen, ohne dass ich mich verteidigen konnte. Nach außen hin spielte sie eine Show. Doch sie war schnell neidisch auf andere, deren Auto, die Eigentumswohnung ... dann hat sie den Kontakt abgebrochen - und sich bei mir darüber aufgeregt, was das für eingebildete, angeberische Leute sind. Sie wollte von allen bewundert werden.

Haben Sie sich je einer Freundin anvertraut?

Wenn ich bei einer Freundin war, wollte ich nicht an zu Hause denken oder davon erzählen. Eine Freundin, mit der ich auch heute noch Kontakt habe, erzählte mir kürzlich, dass sie trotzdem vieles mitbekommen hat. Einmal besuchte sie mich an meinem Geburtstag - der nie gefeiert wurde - mit einem selbstgebackenen Kuchen. Meine Mutter nahm ihn ihr sofort ab, rief meinen Bruder zu sich und sagte: "Komm, wir essen jetzt Gabis Torte." Uns hat sie nichts angeboten.

- Sie streitet alles ab.

- Sie überschreitet deine Grenzen.

- Sie bevorzugt.

- Sie sabotiert.

- Sie erniedrigt, kritisiert und macht dich schlecht.

- Sie lässt dich verrückt wirken.

- Sie ist neidisch.

- Sie lügt auf unzählige Arten.

- Sie muss jederzeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.

- Sie manipuliert Gefühle.

- Sie ist selbstsüchtig und stur.

- Sie ist egozentrisch.

- Sie ist defensiv und reagiert empfindlich auf Kritik.

- Sie terrorisiert.

- Sie ist infantil und kleinlich.

- Sie zwingt dich in die Erwachsenenrolle.

- Sie beutet aus.

- Sie projiziert.

- Sie liegt niemals bei irgendwas falsch.

- Sie weigert sich, empathisch zu handeln.

- Sie schafft Situationen, die du nicht gewinnen kannst.

- Sie ist schamlos.

- Sie beschuldigt.

- Sie zerstört deine Beziehungen.

- Sie verhält sich bemitleidenswert.

Trotz der ständigen Demütigungen haben Sie auch als Erwachsene immer wieder den Kontakt zu Ihrer Mutter gesucht. Warum?

Ich habe mich an die Hoffnung geklammert, dass sie irgendwann merkt, dass ich gar nicht so bin, wie sie sagt. Auch als sie krank wurde, habe ich das noch gehofft. Bis zuletzt.

Wann haben Sie gemerkt, dass die Schuld nicht bei Ihnen liegt?

Erst sehr spät. Mein zweiter Ehemann sprach mich darauf an, dass ich mich in Gegenwart meiner Mutter wie ein kleines Mädchen mit schlechtem Gewissen benehme. Als kleines Kind musste ich einen Knicks vor meiner Mutter machen, als Erwachsene gab ich ihr zur Begrüßung die Hand. Mir ist das nie aufgefallen. Eines Tages zeigte mein Mann mir einen Artikel über das "Schneewittchen-Syndrom", das einen Mutter-Tochter- Konflikt beschreibt, bei dem eine weitgehend liebesunfähige Mutter ihre Tochter beherrschen will. Das kam ihm bekannt vor - und mir auch. Weil meine Mutter zu dem Zeitpunkt aber schon schwer krank war, wollte ich sie damit nicht mehr konfrontieren. Außerdem ist ja eines der typischen Merkmale, dass Narzissten die Schuld immer bei anderen suchen. Es hätte also keinen Sinn gehabt. Dank meinem Mann mache ich inzwischen eine Therapie, um mein fehlendes Selbstwertgefühl wieder aufzubauen.

Sie haben selbst drei Kinder bekommen. Wie empfinden Sie das Muttersein?

Ich war nach jeder Geburt sehr glücklich, bin auch heute noch sehr stolz auf meine drei. Ich wollte nie so werden wie meine Mutter. Ich habe mir immer viel Zeit für meine Kinder genommen, habe ihnen Märchen erzählt, sie in den Arm genommen, gesungen, ihre Fragen beantwortet. Sie sollten merken, dass ich für sie da bin. Wenn mich meine Tochter anstrahlt, geht es mir auch gut. Das gibt mir auch ein Stück meiner eigenen Kindheit wieder.

Vor einiger Zeit haben Sie ein Forum für Kinder narzisstischer Mütter gegründet. Ähneln sich die Erfahrungen Betroffener?

Man möchte es kaum glauben, aber es ist, als hätten Narzissten ein Handbuch, aus dem sie alles 1:1 übernehmen. Die Erfahrungen decken sich zu 98 Prozent, man erkennt sich sofort wieder. Während meine Mutter desinteressiert an meinem Leben war, gibt es auch narzisstische Mütter, die ihre Kinder regelrecht stalken. Sie lauern auch den Enkelkindern auf, holen sie ungefragt vom Kindergarten ab und versuchen, einen Keil zwischen die Kinder und Enkelkinder zu treiben. Das hat auch meine Mutter bei meinen Söhnen versucht.

Ist Ihre Konstellation - böse Tochter, lieber Sohn - typisch?

Ja, es gibt aber auch andere Fälle. Bei einer Betroffenen war der Hund das "goldene Kind". Da hat die Mutter gesagt: "Der Hund freut sich wenigstens, wenn ich nach Hause komme, der wackelt mit dem Schwanz." Auch Einzelkindern kann das passieren. In 90 Prozent der Fälle ist das Mädchen der Sündenbock.

Gibt es auch narzisstische Väter?

Das kommt seltener vor - vielleicht auch, weil es nicht so auffällt. Ein Mann wird dann eher als besonders strenger, gefühlskalter Vater gesehen. Meist geht es um das Mutter-Tochter-Verhältnis: Die Mutter sieht ihre Tochter als Konkurrenz und ist extrem eifersüchtig. "Schneewittchen-Syndrom" trifft es schon ganz gut, nur dass es im wahren Leben nicht um die Stiefmutter, sondern um die leibliche Mutter geht.

Lässt sich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung behandeln?

Bestimmt, aber das Problem ist doch, dass sich narzisstische Menschen als perfekt empfinden. Die Fehler machen immer die anderen, Ratschläge nehmen sie nicht an. Wenn sie in Behandlung müssen, zum Beispiel weil ein Gericht das zur Auflage macht, bleiben sie nicht lange. Sie behaupten, ihnen fehle nichts. Deswegen gibt es auch keine verlässlichen Zahlen dazu.

Was kann man als Außenstehender tun, wenn man mitbekommt, dass ein Kind von seiner Mutter schlecht behandelt wird?

Das frage ich mich auch. Seelische Misshandlung lässt sich schwer nachweisen, sie hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Meist sagen die Kinder auch aus Angst nichts - das ist wie bei körperlichem Missbrauch. Wir haben in unserer Gruppe junge Frauen, die zum Jugendamt gegangen sind und ins Heim wollten - aber sie durften nicht, weil man ihnen nicht geglaubt hat. Die Jugendämter sind dafür noch nicht sensibilisiert. Und die Mütter spielen ihr Theaterstück sehr überzeugend. Viele Kinder wissen auch einfach nicht, was mit ihrer Mutter los ist. Sie suchen den Fehler bei sich. Als Außenstehender kann man lediglich aufmerksam sein und dem Kind immer wieder das Gespräch anbieten, ihm sagen, dass es nicht alleine ist. Auch Lehrer sollten da genauer hinsehen und nachfragen.

Können Sie Ihrer Mutter verzeihen?

Ich wollte immer mein Glück mit ihr teilen, wollte, dass es ihr gut geht. Leider wollte sie das nicht. Ich habe ihr am Sterbebett verziehen, denn Hass ist schlimmer als alles, was ich erlebt habe. Er kostet zu viel Energie.

Haben Sie auch irgendeine schöne Erinnerung an Ihre Mutter?

Nicht eine einzige.

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