Liebende sind keine Hellseher

Liebende sind keine Hellseher

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Beziehungen

Eine Beziehung erschafft leider keine Glaskugel, in der Liebende die Sehnsüchte ihrer Partner herauslesen könnten. Paartherapeut Oskar Holzberg hat mit diesem Problem trotzdem oft in seiner Praxis zu tun.

Foto: kin kohana / photocase.com

Melanie hat Tränen in den Augen, vor Wut und Enttäuschung. "Ich verstehe einfach nicht, dass du mich nicht zu meinem Vorstellungsgespräch gefahren hast. Du musstest doch wissen, dass ich da nicht allein hinfahren will. Aber wie dumm von mir zu denken, dass ich dir wichtig bin!" Thomas ist betroffen. Er habe nie gedacht, dass es ihr wichtig sein könnte. Sie hätte ihn doch bitten sollen. Doch Melanie lässt nichts gelten. "Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, ich hätte dich nie allein fahren lassen. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter mit uns!" Ich beuge mich etwas vor und sage, was ich mich häufig sagen höre: "Dass Thomas Sie liebt, Melanie, bedeutet doch nicht, dass er hellsehen kann."

Unsere Liebesvorstellungen sind romantisch. Liebe, davon gehen wir aus, verbindet uns auf geheimnisvolle Weise und lässt unsere tiefsten Wünsche wahr werden. Dabei merken wir gar nicht, dass wir von unseren Partnern fordern, hellsehen zu können. Liebe soll also fast sein wie Weihnachten, nur dass man nicht mal einen Wunschzettel schreiben muss.

Illusion aus Kindheitstagen

Foto: Ilona Habben

Doch diese Liebe ist eine Illusion, die wir aus Kindertagen in uns tragen. Mama und Papa haben ihre eigenen Bedürfnisse für uns zurückgestellt. Und unsere Kindergesichter waren leicht zu deuten. Aber die komplexen Erwartungen eines erwachsenen Partners können wir ihm nicht mehr an der Nasenspitze ablesen.

Unbewusst gehen wir also davon aus, dass, wer uns liebt, auch weiß, was wir brauchen. Wenn wir uns nach Geborgenheit sehnen, und unser Liebster geht dann mit dem Nachbarn ein Bier trinken, bezweifeln wir seine Liebe. Und erkennen nicht, dass unser Partner auf unsere Wünsche nur eingehen kann, wenn er um sie weiß. Die Klage "Wenn du mich lieben würdest, dann wärst du nicht noch vier Wochen vor dem Geburtstermin mit deinem Freund zum Surfen gefahren!" kann eine nie zu überwindende Enttäuschung bleiben - oder der Beginn einer wirklichen Beziehung.

Wenn wir wieder mal Blümchensex über uns ergehen lassen, wo wir doch lieber härter angefasst werden möchten, dann müssen wir uns äußern. Selbst wenn wir es schon mal gesagt haben. In der Partnerkommunikation ist einmal tatsächlich oft keinmal. Vielleicht glaubt unser Partner ja, er erfülle unsere Wünsche schon. Wir können das nicht wissen, denn auch wir können eben nicht hellsehen. Nur wenn wir den harten Schmerz einer Zurückweisung und den Frust einer Enttäuschung riskieren, kann sich unsere Beziehung entwickeln.

Abweisendes Schmollen oder plötzliche heftige Wutausbrüche können Anzeichen dafür sein, dass Wünsche verdeckt bleiben. Der Schmollende schützt sich durch Rückzug, der Wütende durch Angriff davor, weich und verletzbar zu sein. Denn im Wünschen, Bitten oder Fordern zeigen wir uns bedürftig und erkennen an, dass wir unseren Partner brauchen. Häufig ringen wir dabei auch noch mit unserem Selbstwert. Haben wir überhaupt das Recht, unsere Bedürfnisse so wichtig zu nehmen? Doch selbst wenn wir lernen, unsere Wünsche offen zu äußern, wird geschehen, was wir befürchtet haben: Sie werden nicht immer erfüllt. Und das ist gut so. Weil eine Liebesbeziehung eben keine Wunscherfüllungsmaschine ist, sondern der beste Ort, um erwachsen zu werden.

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